Montag, 17. Oktober 2005 – 38+2 SSW - Charité Campus Berlin-Mitte

Die Geburt von „Weckerchen“  

 

Gegen 7.30 Uhr erreichten Matthias und ich die Charité. Ich hatte die Nacht wenig geschlafen, der Sonntag war recht stressig, eigentlich wollte ich mich erholen, aber es war dann doch noch so viel zu erledigen... es wurde sehr spät und ich konnte in der ersten Hälfte der Nacht irgendwie nicht abschalten. In der zweiten Hälfte plagten mich wieder recht kräftige Wehen, die schließlich vergingen als ich aufstehen musste – typisch. So startete ich also ziemlich übermüdet in das Kapitel "Geburt".

Elina war gut vorbereitet, Oma übernahm in den frühen Morgenstunden meine Position im Familienbett und Elina schlief angekuschelt an Oma weiter, nachdem sie mir noch einen extradicken Kuss gegeben hatte. Die beiden wollten uns dann am frühen Nachmittag (Uhrzeit wollten wir noch absprechen) im Krankenhaus besuchen kommen.

Als wir in der Charité wieder durch diese Automatiktüren, mit denen wir seit der Schwangerschaft mit unseren Zwillingen angstvolle, schreckliche Erlebnisse verbinden, Richtung Pränatal-Diagnostik und Kreißsaal-Aufnahme liefen, dachte ich mir, dass dies wohl hoffentlich das vorletzte Mal war und ich schließlich nur noch einmal - dann hoffentlich mit meinem Baby in den Armen - durch diese Türen gefahren werde und ich dann vielleicht irgendwie Frieden schließen konnte mit diesem Geräusch.

Nach einiger Zeit des Wartens, der nochmaligen Aufnahme, des CTG-Schreibens usw. bekam ich schließlich einen Einlauf, durfte anschließend noch duschen und gegen 9.30Uhr konnten wir uns dann endlich im schönsten und größten Kreißsaal mit großem Kuschelbett "Kuschelsaal" einrichten:

 

 

In diesem "Kuschelbett" kam unsere Maus zur Welt.

 

Es wurde erneut über eine halbe Stunde ein CTG geschrieben. Alles war in Ordnung und so wurde mir kurz nach 10 Uhr das Prostaglandingel vor den Muttermund gespritzt. Nun hieß es abwarten. Der Muttermund war zwar sehr schön weich und das Köpfchen des Babys lag bereits sehr tief im Becken, aber dennoch war es ein recht unreifer Muttermundbefund. Die Zervix war zwar verkürzt, betrug aber noch etwa zwei Zentimeter und alles war fest zu. Es würde wohl doch etwas länger dauern...

Überraschenderweise schlug das Gel ca. eine halbe Stunde nach Verabreichung ziemlich gut und zügig an. Der Arzt war sehr erfreut. Ich hatte kräftige Wehen, die erst im Abstand von 10 min, dann 9 min und ziemlich rasch in einem Abstand von ca. 4 min kamen und sich hier einpendelten. Diese künstlichen Wehen fühlten sich recht heftig und plötzlich an, sie waren nicht mit den „normalen“ Wehen zu vergleichen, die langsamer und stetiger anstiegen bis sie ihren Höhepunkt erreichten, so dass man sich etwas auf den Schmerz einstellen konnte. Diese künstlichen Wehen kamen von jetzt auf gleich, stiegen in wenigen Sekunden von einem Messwert von 4 auf 170 und hielten dann lange den Höhepunkt. Sie waren zwar noch ganz gut zu ertragen und zu veratmen, aber so langsam ahnte ich schon, was mir da blühte. Diese Wehen kamen einem vor, als wäre man ein Luftballon, der von jetzt auf gleich stark aufgepumpt wurde und zu platzen drohte.

Zwischenzeitlich rief Elina mit meiner Mutter an und Matthias verabredete eine Besuchszeit von 14.30 Uhr. Ich war etwas entsetzt, da ich befürchtete, um diese Zeit einem Besuch nicht mehr wirklich gewachsen zu sein, aber zur Not mussten sie halt nur kurz mit Matthias vorlieb nehmen.

Leider reagierte unser Mäuschen aber mit Herzabfällen auf diese heftigen Wehen, was die Ärzte zuerst nur beobachteten, sie aber zunehmend doch sehr besorgte. Mir wurde schon mal vorsorglich eine Flexüle gelegt und ein Kaiserschnitt stand schon bedrohlich nahe im Raum, wenn auch noch unausgesprochen, die Blicke der Ärzte genügten vorerst. Die Stimmung war besorgt und schließlich entschlossen sich die Ärzte, die Wehen SOFORT für etwa 20 Minuten zu unterbrechen, um Weckerchen die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Anschließend wollte man durch Lagewechsel versuchen, Weckerchen auch unter den Wehen so zu stabilisieren, dass man, wenn der Muttermundbefund es irgendwann zuließe, den Ph-Wert am Kopf des Kindes messen konnte, um zu schauen wie es Weckerchen tatsächlich ging, um eben einen Kaiserschnitt zu vermeiden. Zack – jetzt war es ausgesprochen. Sicherheitshalber wurden aber schon mal alle Vorkehrungen für eine evtl. OP getroffen und ich versuchte mich schon mal seelisch darauf einzustellen, dass aus meinem Traum einer Spontangeburt evtl. doch nichts werden würde – aber wir würden weiterkämpfen, Weckerchen und ich. Unmittelbar nach Spritzen des Wehenhemmers bekam ich extremes Herzklopfen. Das wurde mir zwar zuvor angekündigt, aber dass es mir von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen klopfen würde, so dass ich meinte, zerspringen zu müssen, darauf war ich dann doch nicht eingestellt. Weckerchen erholte sich innerhalb der zwanzig Minuten und für die schließlich zurückkehrenden Wehen wurde ich nun auf meine linke Seite umgelagert. Wir bangten, aber wir hatten Glück – links war meine Schokoladenseite, was dafür sprach, dass meine Plazenta eben doch nicht mehr die Beste und die Versorgung leider nicht mehr auf allen Seiten optimal war. Schon gut, dass eingeleitet wurde, wer weiß, was sonst noch passiert wäre. Nachdem das CTG auf der linken Seite für eine Dreiviertelstunde stabil war, durfte ich noch einmal für ein halbes Stündchen aufstehen und herumlaufen, welch Erleichterung, mittlerweile tat mir nämlich die ganze linke Seite schon ziemlich weh. Wir liefen also die Gänge auf und ab bis zur Neo, unter den Wehen konnte ich aber schon fast gar nicht mehr stehen und die Abstände waren schon ziemlich kurz, so alle 2-3 Minuten etwa. Ich wurde dann noch gefragt, ob ich noch Mittagessen wollte und ich sagte zu, wer wusste jetzt schon, wann ich je wieder was kriegen würde. Ich aß dann mein Mittagessen und witzelte noch mit Matthias als mich beim letzten Bissen eine Monsterwehe regelrecht ins Bett warf. Die nächste kam gleich hinterher und ich konnte kaum mehr klar denken. Die Hebamme erschien prompt, fragte: "So schlimm?" ...und untersuchte bei nächster Gelegenheit den Muttermund. Der war erst bei 1,5 bis höchstens zwei Zentimeter! Ich war einerseits froh, dass er „am-sich-öffnen“ war, andererseits entsetzt, dass es nur höchstens zwei Zentimeter waren. War mir doch bekannt, dass es bei Erstgebärenden, die ich ja funktional nach vorangegangenem Kaiserschnitt war, etwa eine Stunde pro Zentimeter dauerte. Das würde ich nicht aushalten! Schlagartig wurde mir klar, was mir da blühte und da machte es auch schon PENG in mir. Die Fruchtblase war geplatzt – es war 13.50 Uhr. Ich hatte dann das Gefühl, unbedingt ganz dringend auf Toilette zu müssen, die Hebamme meinte, das ginge jetzt aber nicht. Da ich sie aber flehentlich anschaute, willigte sie schließlich ein und schickte mich ans andere Ende des Kreißsaals. Wie ich in Begleitung von Matthias zur Toilette gekommen bin, weiß ich nicht mehr recht, auf jeden Fall blutete ich dort dann stark und es war natürlich nichts mit wirklich auf die Toilette müssen, stattdessen zwang mich eine Wehe in die Knie und Matthias Arme und als diese vorüber war, rief ich Matthias noch zu: "Ich muss sehen, dass ich irgendwie vor der nächsten Wehe wieder im Kreißsaal bin..." und rannte, so schnell mich die Beine noch trugen. Ich erreichte den Kreißsaal mit Müh und Not. Dort richteten die Hebammen gerade das schöne große Kuschelbett für mich her. Es war gerade Schichtwechsel, kurz vor 14 Uhr – welch Glück – denn die ab sofort für mich zuständige Hebamme war mir gleich viiiel sympathischer, auch wenn keine Zeit zum Kennen lernen mehr sein sollte. Ich murmelte was von „alles voller Blut“, die Hebamme erwiderte, ja, das ist die Fruchtblase, das ist normal... mir leuchtete das zwar nicht wirklich ein, da die Hebamme aber sorglos schien, machte ich mir keine weiteren Gedanken ...und dann schon wieder unter Wehen schaffte ich es eben gerade noch so, mich regelrecht ins Bett zu schmeißen. Ich musste ja links liegen und ich glaubte zu zerbersten. Dass mein Bauch nicht einfach platzte, wundert mich heute noch. Die Wehen kamen jetzt hintereinander weg, es war ein regelrechter "Wehensturm". Es blieb keine Zeit, Luft zu holen und die Wehe stieg schlagartig innerhalb von Sekunden in immense Höhe. Der Schmerz überrollte mich regelrecht – es war wie „live abgeschlachtet“ zu werden. Ich begann zu pressen, was ich ja eigentlich nicht durfte bei 1,5 cm Muttermundöffnung... Matthias erzählte hinterher, dass er sich teilweise regelrecht das Lachen verkneifen musste, weil ich knurrte und brüllte wie "eine Horde wild gewordener Affen im Löwenkäfig" (sehr schmeichelhaft), auf der anderen Seite tat ich ihm unsagbar leid...

Die Hebamme untersuchte nochmals den Muttermund, obwohl die andere Hebamme das ja gerade wenige Minuten zuvor getan hatte, aber irgendwie kam es ihr mit meinem Pressdrang merkwürdig vor – und siehe da – der Muttermund war zur allgemeinen Überraschung vollständig eröffnet. Die Hebamme vom Frühdienst meinte noch: „Das kann ja gar nicht sein, vor drei Minuten waren es noch 1,5 bis höchstens 2 cm.“ Die andere Hebamme untersuchte noch einmal und bestätigte die vollständige Eröffnung. Es wurde vermutet, dass der Muttermund unter dem heftigen Wehensturm gerissen war, weil er sich so plötzlich und viel zu schnell geöffnet hatte und nun musste auch schon alles ganz schnell gehen. Die Dienst habende Ärztin wurde gerufen und alles wurde blitzschnell für die unmittelbar bevorstehende Entbindung vorbereitet. Ich wand mich derweil in den Wehen, fühlte mich total überrannt, den Wehen überhaupt nicht mehr gewachsen und begriff noch gar nicht recht, dass unser Baby in Kürze auf die Welt kommen sollte. Ich fragte, ob ich nicht irgendwas, EGAL WAS, kriegen konnte, um die Schmerzen etwas erträglicher werden zu lassen, aber die Hebamme antwortete nur: „Im Prinzip schon, bloß, wenn ich Ihnen jetzt etwas gebe, ist das Baby eher da als das eine PDA oder dergleichen wirken kann.“ Es blieb mir also nichts anderes übrig, als da irgendwie durchzumüssen. Die Hebamme massierte etwas mein Becken. Da öffnete sich die Kreißsaaltür und „unsere“ Pfarrerin und Seelsorgerin kam herein. Sie hatte mich vor ein paar Minuten noch in den Kreißsaal wetzen sehen und wollte daher mal nach mir schauen. Sie war es, die damals Elina im Inku notgetauft hatte und uns seelischen Beistand beim Tod von Anica und in der langen Zeit des Klinikaufenthalts von Elina leistete. Sie machte mir auch jetzt Mut und bekräftigte mich, ich aber wusste plötzlich nicht mehr wie ich atmen sollte, verkrampfte mich, rang nach Luft und begann zu hyperventilieren. Matthias musste schließlich mitatmen, damit ich überhaupt wieder einen Atemrhythmus fand. Die Pfarrerin kam sich in diesem Moment super hilflos und fehl am Platz vor und verschwand ganz schnell wieder. Sie hat uns dann erst wieder besucht als ich mit dem Baby gerade auf Station angekommen war.

Endlich begann nun auch „offiziell“ die Austreibungsphase. Ich empfand es als enorme Erleichterung, dass ich nun endlich richtig mitpressen durfte. Es war mittlerweile kurz nach 14 Uhr und in dem Minimoment zwischen zwei Wehen, der mich kurzzeitig klar denken ließ, fragte ich, wie lange das jetzt wohl noch dauern würde. Die Hebamme antwortete: „Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vielleicht bis zur Kaffeezeit.“ Ich überlegte nur, ob sie damit wohl 15 Uhr meinte und mir war klar, so lange wollte und konnte ich diese Wehen nicht mehr ertragen. Die Schmerzen waren so heftig, dass ich nur noch eines denken konnte: das Baby musste so schnell wie möglich raus, egal wie... Ich presste also mit aller Macht. Irgendwann merkte ich noch wie ein Teil der Flexüle quer durch den Kreißsaal schoss - schon absoluter Wahnsinn, wie man in solchen Momenten über sich hinauswachsen kann und was für ungeahnte, enorme Kräfte man entwickeln konnte. Pro Wehe presste ich auf Anweisung immer dreimal mit voller Kraft, so dass ich nach wenigen Wehen schon total erschöpft war, aber wir kamen sehr schnell voran. Die Hebamme und die Ärztin bekräftigten mich immer wieder und ich hörte Kommentare wie: „Super – jetzt sind wir schon wieder ein ordentliches Stück vorangekommen“ oder „JA, sie machen das ganz toll! ...und nochmal“ und schließlich „wir sehen schon die Haare!“ Ich dachte nur verwundert „Haare“?? Meinte sie wirklich „Haare“? Das konnte unmöglich mein Baby sein, hatte doch Elina noch mit zwei Jahren höchstens drei Haare auf dem Kopf. Bis ich feststellte, das ja ich unter der Geburt lag und es dann wohl stimmen musste. Komische wirre Gedanken, die einem da durch den Kopf fliegen, aber ich denke, sie zeigen deutlich, in was für einem Ausnahmezustand man sich unter der Geburt befindet. Die Hebamme führte schließlich meine Hand und ließ mich die Haare von Weckerchen betasten. Es fühlte sich total weich an, aber richtig zuordnen konnte ich das in diesem Moment nicht wirklich. Irgendwie zählte nur noch der reine „Überlebenswille“, Gedanken ans Baby hatte ich da nicht mehr wirklich. Ich wusste gar nicht, ob es noch da war, ob es noch lebte, vorstellen konnte ich es mir bei diesen Schmerzen eigentlich nicht mehr wirklich. Ich presste dann noch einmal und dann sagte die Hebamme: „Jetzt lassen sie mich mal arbeiten." Ich sollte nicht mehr pressen, nur noch hecheln. Sie versuchte, vorsichtig das Köpfchen hervorzuarbeiten, um ohne Dammschnitt auszukommen, denn da alles so ratzfatz ging, hatte der Damm keine Zeit sich zu dehnen und drohte zu reißen. Um einen Mini-Dammschnitt kam ich dennoch nicht herum, aber ich verbuchte ihn nur unter „ferner liefen“. Er war bei weitem nicht so schlimm wie befürchtet, es fühlte sich an wie ein Schnitt mit einer Rasierklinge oder einem Cuttermesser. Die Wehen waren aber weitaus heftiger. Ich bin überzeugt, ich hätte das Baby nachher auch ohne Wehen hinausbefördern können. Die Wehen waren der reinste Horror. Wegen der Hämorrhoiden bekam ich leider einen schrägen Dammschnitt, d. h. eine medio-laterale Episiotomie, aus Angst, die Hämorrhoiden bei einem bevorzugten geraden Schnitt mit einzuschneiden. Schließlich war das Köpfchen da und ich sank erstmal erschöpft zurück in die Kissen „Ich kann nicht mehr“-murmelnd. Ich muss die Hebamme ziemlich verzweifelt angeschaut haben, denn sie beugte sich über mich und sagte: "Ich verspreche Ihnen, nur noch eine einzige Wehe, dann ist das Baby da." Ich flüsterte: „Okay“ und setzte noch ein letztes Mal all meine Kräfte ein.

 

14:12 Uhr: „Gucken Sie mal, wer da ist! Ihr kleines Mädchen!“

...und da hing sie da in der Luft, blutverschmiert, mit nur wenig Käseschmiere, unsere kleine Maus...

...und sagte nur kurz „Ey“ - weiter nichts.

Ich dachte noch, sollte sie nicht eigentlich schreien, aber keiner wirkte wirklich beunruhigt und da lag sie auch schon auf meiner Brust, ergriff meinen Finger und „glotzte“ mich regelrecht an. Ich war für einen Moment so erschöpft und so völlig gefühllos. Weder erfreut, noch erleichtert noch sonst irgendwas, einfach nichts. Irgendwie musste ich das Erlebte erstmal verdauen. Ich schaute sie an, wie sie mich so aufsog mit ihren großen Kulleraugen voller Neugier und Erstaunen, betrachtete ihr kleines zartes Gesicht. Nichts war da von einer Dacryocystocele zu sehen, aber gleich, was auch sein oder kommen würde, wir würden immer für sie da sein.

Ich fühlte ihre winzig kleinen Füße

und dachte, wie winzig sie doch sind und dabei mussten sie im Vergleich zu Elina und Anica damals doch riesengroß sein.

Vergleich Fußabdrücke Anica (und folglich auch Elina) und Amelia

 

 

Und dann strömte auch schon diese tiefe, innige Liebe zu diesem kleinen Wesen auf meiner Brust und ich versank in ihren Augen, küsste und streichelte sie, völlig fern von der Welt – nur sie und ich. Immer wieder schoss es mir durch den Kopf, dass wir es tatsächlich geschafft hatten. Kein Kaiserschnitt, völlig „normal“ und alles war so, wie ich es mir in den kühnsten Träumen nicht getraut hatte, auszumalen. Sie auf meinem Bauch – kein Kinderarzt weit und breit – und sie war tatsächlich schon da. Die Geburt war schon überstanden, dabei war es gerade Viertel nach zwei... rechnete man nicht erst am nächsten Tag mit ihr? Ich war so überwältigt und immer noch fühlte ich mich überrannt von den Ereignissen, irgendwie ging doch eigentlich alles viel zu schnell, ich kam mit meinen Gedanken und Gefühlen gar nicht hinterher. Im Kreißsaal der Charité war ich noch tagelang Gesprächsthema Nr. 1 und galt fortan unter den Ärzten als Turbomama ;-). Die Geburt dauerte insgesamt gerade mal knappe drei Stunden, für eine funktional Erstgebärende schon ziemlich rasant und die Austreibungsphase auch nur mal eben 10 Minuten. Hinterher muss ich sagen, hatte ich schon hier und da mal einen Filmriss. Ich kann z. B. nicht mehr genau sagen, wie viele Wehen ich wann hatte und auch bei der zeitlichen Reihenfolge musste mir für diesen Bericht Matthias schon mal die eine oder andere Hilfestellung geben. An die Worte der Hebamme unter der Geburt hingegen erinnere ich mich allerdings ganz exakt und Matthias war sehr stolz, dass ich trotz der enormen Schmerzen all ihre Anweisungen stets wie gewünscht umsetzte.

* ~ *

Ich war völlig verzaubert von diesem kleinen Geschöpf, es war ein Wunder! Unser kleines Mädchen – nun war es da! Amelia war auffallend ruhig und zugleich sehr wach und aufmerksam. Wie sie mich so betrachtete, so völlig interessiert und doch auch so ruhig. Die Hebamme schaute immer mal wieder, weil sie sich so gar nicht äußerte und sah immer wieder nur ein absolut zufriedenes Baby. Als die Nabelschnur auspulsiert war, kam Matthias’ großer Moment: er durfte sie durchschneiden. Unser Baby hatte eine außergewöhnlich dicke Nabelschnur, die Hebamme meinte, sie hätte wohl extra vorgesorgt und sich zusätzlich absichern wollen.

Dann kam auch schon die Plazenta. Die Wehe rollte an und ich dachte gerade: Oh, nein, noch einmal halte ich das nicht aus, als just in dem Moment als sie unerträglich wurde, die Hebamme an der Nabelschnur zog, die Nachgeburt kam und die Wehe umgehend abebbte. Puuh...

Nachdem die Plazenta gewissenhaft und akribisch genau auf Vollständigkeit untersucht und uns anschließend gezeigt wurde, bekam der Papa unser kleines Mädchen in die Arme gelegt und ich musste mich noch einer ausführlichen Untersuchung unterziehen, weil man eben vermutete, das der Muttermund gerissen war, dem war zum Glück nicht so.

Jetzt fand auch die Ärztin den Flexülen-Deckel auf dem Fußboden und dann witzelten Hebamme und Ärztin noch: „Da wäre uns Frau Schmidt doch beinahe unter der Geburt verblutet und wir hätten es noch nicht einmal bemerkt.“ ...und dann, sich ihrer Aussage bewusst geworden: „Nee, nee, keine Sorge, wir hätten das schon rechtzeitig mitgekriegt.“

Als wir dann auf die Uhr schauten, mussten wir mit Erschrecken feststellen, dass es kurz vor 14.30 Uhr war und wir ja zu dieser Zeit meine Mama und Elina bestellt hatten. Es kam ja alles so schnell, dass natürlich keiner von uns auch nur im Entferntesten daran gedacht hatte, die beiden zu informieren. Aber das Timing war nun schließlich fast perfekt, besser hätte es kaum sein können. Das Baby kam wieder zu mir auf die Brust, während ich genäht wurde und Matthias holte die Zwei währenddessen vor dem Kreißsaal ab.

Meine Mutter erzählte später wie Matthias freudestrahlend angelaufen kam und voller Stolz berichtete, dass alles bereits „erledigt“ sei, das Baby wäre da und Nicole würde gerade genäht werden. Meine Mutter war total entsetzt, dachte sie doch sofort an einen Kaiserschnitt, wie sonst sollte es so schnell gegangen sein. Umso erfreuter war sie, dass dem nicht so war!

Matthias kam zurück, mit dem Nähen waren sie schon bald fertig. Und während ich von all dem Blut etwas gesäubert, frisch eingekleidet und umgebettet wurde, warteten meine Mama und Elina schon sehnsüchtig vor der Tür. Die noch kinderlose junge und ganz liebe Ärztin war total verzückt von unserem Nachwuchs. Und dann durfte Amelia auch schon ihren ersten Schluck leckere Vormilch kosten. Sie dockte ohne Umwege an und saugte mit einer Kraft, die Elina in all den vier Jahren nicht an den Tag gelegt hatte. So, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. So lag sie da in meinen Armen, warm und weich und winzig „klein“ und trank, nickte ein, trank weiter...

Dick eingemummelt in Tücher und Decken, nur mit Jäckchen bekleidet, ohne Windel, lag Klein-Amelia dann also trinkend in meinen Armen, als Elina mit „Oma“ hereinkam. Wie Elina mich so anschaute, so verunsichert und zugleich erleichtert und dann auf Amelia reagierte, dieser Moment bleibt für immer fest in meinem Herzen verankert. Sie war sofort hingerissen von diesem kleinen Wesen, gleich total verliebt und mächtig stolz auf ihre kleine Schwester.

Als Amelia dann später zu Oma in den Arm wanderte, friedlich schlafend,

kroch Elina zu mir unter die Bettdecke und rollte sich in meinen Armen ein. Es war ein ganz inniger Moment voller Zärtlichkeit und Glück und dem Gefühl: „jetzt wird alles wieder gut.“

 

Wir hatten ausgiebig Zeit unser Glück zu genießen. Erst gute zwei Stunden später kam die Hebamme, um Amelia ganz kurz zu baden - auch nur, weil sie so voller Blut war und endlich auch zu wiegen und zu messen und richtig anzuziehen. Amelia Maya war ein richtig kleiner Wonneproppen – ganz so wie wir es uns erträumt hatten.

Wir hatten auch danach noch gut eine Stunde Zeit für uns, erst dann erfolgte die erste Untersuchung durch eine Kinderärztin, die bis auf ein Herzgeräusch, was aber bei drei von 10 Neugeborenen vorkam und welches man am Folgetag meist schon nicht mehr hörte, sehr zufrieden war. Das rechte Auge wurde begutachtet, aber es zeigte sich nichts mehr von einer Dacryocystocele, welch Riesenglück! Wahrscheinlich hatte sich diese Zyste bereits im Mutterleib zurückgebildet. Das soll ja in 5 von 10 Fällen möglich sein. Auch wachstumsretardiert bzw. small for gestional age war Amelia nun wirklich nicht. Na ja, viele Ärzte – viele Meinungen und dadurch wurde man in der Schwangerschaft natürlich auch ganz schön verrückt gemacht, aber egal, wichtig war, dass Amelia gesund war!


Amelia – 2 Tage alt