4 Monate alt (korrigiert 1 Monat)

Von Tag zu Tag fand ich nun immer mehr Gefallen an meinem neuen Zuhause. Am allerschönsten war es, dass Mama und Papa tatsächlich immer in meiner Nähe waren, denn diesen Versprechungen wollte ich zuerst nicht so recht glauben.

Mein neu gewonnenes Vertrauen und meine Sorglosigkeit nahmen ein jähes Ende, als Papa plötzlich viele Stunden am Tag verschwunden schien. Ich hatte ja nun wirklich einen Logenplatz auf Mamas Schultern, aber glaubt mir, Papa war wirklich nicht da. Ich war sehr besorgt, was, wenn nun auch Mama fort ging? Ich gab mir wirklich alle Mühe meinen Kopf auf Mamas Schultern einigermaßen in Position zu halten, um ja nicht zu verpassen, wann Papa wiederkam. Wie sich bald herausstellte, ging Papa stets zur gleichen Zeit fort und kam gegen Abend wieder heim. Was er wohl den ganzen Tag so anstellte? "Arbeiten" sagte Mama, aber was war "arbeiten"? Na ja, eines Tages würde ich schon dahinter kommen, die Hauptsache war doch, dass Papa immer wiederkam. Ich hielt Mama derweil jedenfalls mächtig auf Trab, es sollte ja keine Langeweile aufkommen.

Ich schlief grundsätzlich nie länger als ein bis maximal zwei Stunden am Stück und nachts in aller Regel noch weniger. Ich fand, das war eine lange Zeit, schließlich wollte ich nichts verpassen. Da meine Lieblingsschlafposition schon im Krankenhaus die Bauchlage war, wagten es meine Eltern sogar einmal entnervt, mich so schlafen zu legen, entgegen dem Rat der Krankenhausärzte zur Entlassung. Zumindest war ich ja Monitorüberwacht, aber so ganz wohl war meinen Eltern dennoch nicht dabei, schließlich wollten sie den "Plötzlichen Kindstod" nicht gerade provozieren. Und siehe da, ich kleiner "Satansbraten" schlief ausnahmsweise von 24 bis 5 Uhr durch und meine Eltern hätten das Risiko sicher schweren Herzens noch häufiger in Kauf genommen, wenn sich dies nicht als einmalige Angelegenheit herausgestellt hätte.

Vor allem in der Zeit von 24 bis 4 Uhr früh drehte sich alles in meinem Kopf wie ein Kreisel. Ich schrie und schrie aus Leibeskräften, sollten ruhig alle hören, dass ich noch da war. Ich war müde, konnte aber diese Stille nicht ertragen, Lärm aber wollte ich auch nicht. Und dunkel war's, das machte mir Angst, aber mit etwas Licht, gab es ja schon wieder so vieles zu betrachten, zu bestaunen. Dann wirbelten noch die ganzen Eindrücke des Tages in meinem Kopf herum und ich fand einfach keinen Knopf, diesen Wirrwarr in meinem Kopf auszuschalten, dabei wollte ich doch einfach nur schlafen. Zu allem Überfluss bekam ich dann noch höllische Bauchkrämpfe und ich konnte wirklich nicht mehr anders, als einfach nur noch weinen tagein tagaus. Die Blicke meiner Eltern wechselten zwischen besorgt, fröhlich, aufgeregt, gelassen und ärgerlich. Papa flüchtete fast jede Nacht nach oben ins Wohnzimmer auf die Couch, Mama nahm den Terror zumeist geduldig hin und ich gebe zu, manchmal hätte ich mir am liebsten selbst die Ohren zugehalten. Aber es passierte soviel in meinem Körper, das konnte ich einfach nicht zuordnen, nicht kontrollieren, nicht ertragen.

Mit den Mahlzeiten kam ich irgendwie auch nicht klar. Mal verschmähte ich Brust und Flasche, ein anderes Mal hatte ich absoluten Heißhunger. Mal hatte ich schon kurz nach der letzten Mahlzeit Hunger, ein anderes Mal erst drei Stunden später. Mir wurde dauernd übel und ich bekam Bauchschmerzen. Ich gab mir wirklich außerordentliche Mühe meine Portionen auszutrinken, aber postwendend oder auch später spuckte ich die Hälfte wieder aus, klar, dass ich dann sofort neue Mumi verlangte. Irgendwann hatte ich die Nase voll, am liebsten wollte ich gar nichts mehr trinken, davon konnte ich Mama allerdings nicht überzeugen. Sie versuchte hartnäckig, mir die Mumi wieder schmackhaft zu machen und die Mahlzeiten wurden zu wahren Geduldsproben. Es war ein richtig kleiner Teufelskreis und ich fand einfach keinen Weg, diesen zu durchbrechen.

Mama wurde zunehmend genervter und gab mir schon kaum mehr die Brust, da ich dort sowieso allerhöchstens ein Dreiviertel meiner Mahlzeit verspeiste und dies zudem nicht immer und sie letztendlich doch stets noch Mumi abpumpen musste. Dieses gleichmäßige Geräusch der Milchpumpe fand ich allerdings herrlich entspannend, dabei ließ es sich prima schlafen und von der Zeit her, war es auch passabel. Für ein kurzes Nickerchen reichte es allemal.

Aber trotzdem wollte ich nicht auf die Mumi direkt aus Mamas Brust verzichten und so beschloss ich, ihr zu zeigen, wie sehr ich diese Innigkeit während der Mahlzeiten genoss.
Da Mama mich nach jeder Stillmahlzeit auf die Waage legte, konnte ich sie schnell davon überzeugen, dass ich sogar mehr als eine komplette Mahlzeit, nämlich rund 80 ml, aus der Brust trinken konnte, wenn ich nur wollte. Mama war schlichtweg begeistert. Wie begeistert sie war, sollte ich bald am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Ich hatte nicht mit Mamas wieder erwachter Hartnäckigkeit gerechnet, was das Stillen anbelangte. Mama holte zum Gegenschlag aus. Nachdem ich mehrere Mahlzeiten komplett an der Brust eingenommen hatte, schien nun ihre Sorge, dass mir die Brust noch zu anstrengend war, ich folglich nicht genug trinken würde und dadurch womöglich abnahm, unbegründet. Also startete sie am 10.12.00 den Versuch, mich ab sofort ausschließlich zu stillen. Das wiederum war nun nicht so ganz in meinem Sinne. Schließlich war ich Brust UND Flasche gewohnt. Ich ahnte noch nicht, dass das Flaschenzeitalter für mich nun endgültig beendet war.

Zunächst machte ich unverdrossen mit, mir kam nichts merkwürdig vor. Mit jeder Mahlzeit aber wurde mein Verlangen nach der Flasche größer, was ich auch zunehmend lauter und mürrischer äußerte. Zwei Tage später beschloss ich, einfach nicht mehr aus der Brust zu trinken, man würde sicher die Flasche holen. Ich musste nur hartnäckig bleiben. Mama war nach einiger Zeit tatsächlich leicht verunsichert. Und siehe da, ich hatte gewonnen! Sehnsüchtig schaute ich der Flasche entgegen, siegessicher und begierig riss ich meinen Mund auf, um mir endlich breit grinsend den wohlverdienten Schluck zu gönnen. Aber was war das? Das Zeugs schmeckte ja widerlich, bähhh!!!!!

Mama und Papa hatten mich reingelegt. Wütend spuckte ich Mama diesen ekligen Tee mitten ins Gesicht. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten. Ich trank jedenfalls fortan gar nichts mehr, jawohl! Mein Dickkopf brachte Mama ganz schön zur Verzweiflung, sie war bald hin- und her gerissen, mir doch wieder Brust UND Flasche anzubieten, weil ich so gar nichts trinken wollte und gerade ich konnte mir das ja nicht leisten, zart wie ich war. Wäre Papa nicht gewesen, hätte ich Mama vielleicht umstimmen können, aber er ermunterte Mama immer wieder jetzt konsequent zu bleiben. So gab ich mich dann nach drei freiwillig ausgesetzten Mahlzeiten endlich geschlagen. 1:0 für Mama!
Aber ich arrangierte mich schnell und fand täglich neue Vorteile, die das Stillen für mich brachte. So brauchten wir nachts nicht mehr aufstehen, ich konnte sofort losnuckeln selbst im Halbschlaf ohne überhaupt richtig wach zu werden und der größte Erfolg: praktischerweise schlief ich gleich bäuchlings auf Mamas Brust direkt an der Quelle. :

Auch mit dem Baden konnten wir uns arrangieren. Der großen dunklen Babybadewanne konnte ich ja beim besten Willen nichts abgewinnen. Mama überlegte hin und her, schließlich genoss ich die Bäder im Krankenhaus sehr, warum also auch nicht daheim? Und wie nicht anders erwartet, hatte sie eine spitzenmäßige Idee! Da ich ja so klein und zart war, durfte ich fortan in einer quietschgrünen Salatschüssel baden. Dort hatte ich meine Begrenzungen, fühlte Halt und kam mir längst nicht mehr so verloren vor. Ich genoss die Bäder zunehmend.

Am 19.12.00 hatte ich die U4 bei meiner Kinderärztin. Sie war sehr zufrieden mit mir und es gab keinen Grund zur Sorge. Ich wog mittlerweile stolze 2730 g bei 48 cm Länge und einem Kopfumfang von 34 cm. Außerdem wurde ich zum 2. Mal geimpft; gleich zwei Spritzen, das war furchtbar! Ich nahm es Mama sehr übel, dass sie zuließ, mich so zu malträtieren. Ich war enttäuscht und dies gab ich ihr noch Stunden später zu verstehen.
Mama allerdings war auch wegen vielerlei Tatsachen nicht mehr so ganz überzeugt von den Fähigkeiten der Kinderärztin. Sie schien nicht allzu kompetent in Sachen Extrem-Frühchen und sah alles sehr gelassen. Sie wollte die begonnenen Impfungen erst viel später fortsetzen, auch auf die Gefahr hin, dass der vollständige Impfschutz dann verloren ginge. Sie konnte nicht verstehen, weshalb wir zusätzlich ein SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum - Risikosprechstunde für Frühgeborene) in Anspruch nahmen und auch dort zur Krankengymnastik gehen wollten. Aber dort kannten sie mich eben von ganz klein auf und Mama und Papa fühlten sich in der Charité gut aufgehoben. Insgeheim wollten sie bei nächster Gelegenheit, die sich bei der demnächst anstehenden Schädelsonografie bieten sollte, einen anderen Kinderarzt testen. Mir war das gleich. Wenn es nach mir ginge, könnten wir uns sämtliche Ärzte sparen, aber leider hatten meine Eltern das letzte Wort, zumindest in diesem Fall.

Einige Tage später starrte ich ehrfürchtig auf diesen großen Tannenbaum, an dem es nur so funkelte. Dort hingen überall kleine Lichter und bunt glitzernde Kugeln. Besonderes Gefallen fand ich aber an den schillernden Bändern und dem knisternden Geschenkpapier. Der Schnee, der draußen lag, ließ mich hingegen unbeeindruckt, er war kalt. Drinnen hingegen war es mollig warm. Es war mein erstes Weihnachtsfest und zu diesem festlichen Anlass durfte ich mein erstes Kleidchen tragen in Gr. 50!

Kurz nach Weihnachten erkrankte Eric, mein drei Jahre älterer Cousin, an den Windpocken. Hoffentlich hatte ich mich nicht angesteckt, denn er besuchte uns erst kürzlich. Aber dank der Mumi müsste ich eigentlich "leihimmun" sein. Ich hatte nun wirklich keine Lust auf so einen fiesen, juckenden Ausschlag und dieses Jahr weiß Gott genug erlebt.

Am 29.12.00 stand die gefürchtete Schädel- und Hüftsonografie an. War das eine Strapaze, kann ich Euch sagen. Ich wehrte mich mit Händen und Füssen und nichts, aber auch gar nichts konnte mich beruhigen oder wenigstens ablenken. Wie ich es hasste, wenn man an mir herumdokterte. Die Hüfte war zumindest soweit altersgerecht, die Hüftknorpel waren allerdings noch nicht ausgebildet. Ein weiterer Kontrolltermin stand somit an. Besonders unangenehm war allerdings dieses blöde Ding, mit der die Kinderärztin in meinen Kopf drückte. Ich vergaß mich total und hörte immer wieder auf zu atmen. So musste die Untersuchung immer wieder kurz abgebrochen werden, bis ich mich einigermaßen gesammelt hatte. Es war die absolute Qual. Die Befunde zumindest waren befriedigend. Der Schädel war soweit okay, die Schmetterlingsform der Ventrikel leicht unregelmäßig, aber größere Schäden hatte die Blutung wohl nicht hinterlassen. Zu meinem Entsetzen sollte diese Schädelsonografie nun routinemäßig alle zwei Monate durchgeführt werden. Mir war jetzt schon Bange vor dem nächsten Termin. Die neue Kinderärztin war mir und nicht nur mir, aber viel sympathischer und außerordentlich kompetent, dass muss ich zugeben. Sie nahm sich sehr viel Zeit und wirkte sehr fürsorglich und engagiert.

Das Jahr ließen wir ruhig ausklingen. Es war ein sehr anstrengendes, trauriges, aber auch ungeheuer spannendes Jahr gewesen, was war nicht alles passiert…
Ich hatte sehr hart um mein winziges Leben kämpfen müssen, aber ich hatte mein großes Ziel erreicht und war nun dort, wo ich hingehörte bei Mama, Papa und Jessie, meiner Familie.

Von den Silvesterknallern unbeeindruckt schlummerte ich selig auf Mamas Brust ins Neue Jahr hinein und träumte von meiner "großen" Schwester Anica. Was würden mir die nächsten zwölf Monate wohl bringen?

 
 

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Elinas 1. Lebensjahr