
Um 1.20 Uhr nachts schreckte ich hoch; irgendwie
war alles nass, mein Nachthemd, das Bett, das Bett???? In mir schrillten
die Alarmglocken, tiefes Unbehagen beschlich mich und ich fühlte
wie Panik meinen Körper ergriff. Ich taperte ganz vorsichtig
auf die Toilette, obwohl ich wusste, man sollte besser liegen bleiben,
aber ich brauchte die Gewissheit, wollte mit eigenen Augen sehen,
dass es Fruchtwasser war. Das Bett war total durchtränkt, es
bestand kein Zweifel: Blasensprung.
Der Angstschweiß brannte mir auf der Stirn. Ich zwang mich
dazu, Ruhe zu bewahren, aber innerlich war mir klar, jetzt war alles
vorbei, nichts könnte die Zwillinge jetzt mehr aufhalten.
Die Zwillis, wo waren sie überhaupt, ich spürte sie gar
nicht mehr, saßen sie jetzt total auf dem Trockenen? Ich klingelte
eine Schwester herbei...die Minuten zogen sich endlos dahin...endlich
kam sie, sie sah den Schrecken in meinen Augen und begann sogleich
nach den Herztönen zu forschen. Die Zwillis lebten. Ich wurde
ans CTG gehängt und man informierte einen Arzt. Ich hatte regelmäßig
Wehen.
Die Ärztin kam, ich wurde ins Untersuchungszimmer
geschoben und es wurde ein Ultraschall gemacht. Es war noch genug
Fruchtwasser da und die Situation an sich war unverändert.
Ich zitterte am ganzen Körper vor Angst. Die Zeit verrann,
und ich war in wahnsinniger Sorge um unsere beiden Mädchen.
Es wurde mit dem Professor telefoniert und dann ging alles ziemlich
schnell.
Die Wehen waren mittlerweile deutlich stärker und schmerzhafter
und kamen in kürzeren Abständen...im Fahrstuhl wurde ich
im Groben über den bevorstehenden Kaiserschnitt aufgeklärt,
im Kreißsaal begannen unverzüglich die Vorbereitungen
auf die OP. Ich durfte meinen Mann anrufen, wurde an Infusionen
gehängt, nochmals untersucht und ich musste schnell auf ein
Blatt Papier meine Unterschrift kritzeln, die heute sicher keiner
mehr entziffern könnte, so zitterte ich. Zuhause ging nur der
Anrufbeantworter ran, ich sprach lange drauf, aber Matthias schlief
wohl zu fest...dann kam er doch noch ans Telefon. Jessie, unsere
Schäferhündin, hatte meine Stimme erkannt, ihn wachgeleckt
und zum Telefon geführt. DANKE kleine Jessie! Er versprach,
sofort zu kommen. Er würde ca. eine dreiviertel Stunde brauchen,
solange aber konnten die Ärzte nicht mehr warten.
Ich sollte eine Spinalanästhesie erhalten,
um die Geburt miterleben zu können.. Es wurden allerletzte
Vorbereitungen getroffen, die Narkose gesetzt. Ich bekam fast keine
Luft, so gekrümmt musste ich dasitzen mit diesem Riesenbauch
und außerdem hatte ich meine zitternden Beine kaum unter Kontrolle.
Der Anästhesist war sehr nett. Langsam wirkte die Narkose und
es konnte losgehen. Just in diesem Moment rief jemand: "Herr
Schmidt ist da!" Und der Anästhesist rief, er solle sich
ganz rasch OP-tauglich einkleiden. Nicht mal 25 min hat er gebraucht,
wie schnell musste er gefahren sein? Mir fiel ein Stein vom Herzen,
denn nun war ich nicht mehr allein und konnte meine Angst um unsere
Kinder mit meinem Mann teilen.
Es ging alles sehr schnell, kurz nach Beginn der
Sectio schwappte ein Schwall Fruchtwasser auf den Fußboden
und schon wurde mir im Vorbeigehen kurz die kleine Anica gezeigt
und weiter ging es zu den Kinderärzten im Raum nebenan...kurz
darauf folgte Elina, wieder nur ein kurzer Blick. Kein Schrei von
meinen kleinen Babys; sie lagen regungslos eingehüllt in ihren
Decken. Anica war ganz dunkelrot und Elina leichenblass. Ich hatte
so wahnsinnige Angst und fragte, ob sie wirklich beide lebten. Ja,
das taten sie. Dennoch war ich wenig beruhigt. Ich fühlte mich
plötzlich so allein, so unendlich hilflos. Jetzt konnte ich
wirklich nichts mehr für sie tun, sie waren komplett auf sich
allein gestellt, nur einen Raum entfernt von mir und doch so unendlich
weit weg. Mir wurde übel und ich bekam keine Luft mehr, die
Schmerzen waren plötzlich wieder da und wurden unerträglich.
Man zog so sehr in meinem Bauch herum, dass ich dachte, man zöge
mich über den OP-Tisch, ein ganz merkwürdiges Gefühl.
Der Anästhesist spritzte mir etwas gegen die Übelkeit,
aber dennoch ging es mir nicht mehr gut. Er zeigte mir ständig
meinen sich hebenden Brustkorb, aber ich hatte weiterhin das panische
Gefühl zu ersticken. Dann gingen wohl plötzlich alle meine
Werte runter und ich bekam viele Infusionen. Davon habe ich allerdings
schon nichts mehr mitbekommen. Als ich wieder erwachte, war die
OP gerade beendet und ich sah wie man mich in ein Bett hob und fein
säuberlich meine Beine übereinander legte. Das war ein
ganz komisches Gefühl, denn meine Beine waren absolut gefühllos
als gehörten sie gar nicht zu mir. Ich dachte noch - Mensch,
das ging aber schnell - dabei dauerte die OP ganze 2 1/2 Stunden.
An weitere Details kann ich mich schon nicht mehr erinnern.
Als ich erneut erwachte, lag ich in einem großen,
abgedunkelten Raum, Matthias an meiner Seite. Es hingen Bilder an
der Wand, aber sobald ich die Augen öffnete verschwammen sie
sofort und alles im Raum bewegte sich nach rechts. Was war mit unseren
Kindern? Wo waren sie jetzt, wie ging es ihnen? Mir ging es sehr
schlecht. Diese Ungewissheit auf der einen Seite und andererseits
fühlte ich mich so unendlich müde und schwach und wollte
nur einfach schlafen und dachte, ich könne es nicht, dabei
tat ich es irgendwie die ganze Zeit. Dauernd wurde ich erschreckt
durch die Blutdruckmessung - alle 15 Minuten sagte Matthias später,
es kam mir viel häufiger vor.

Endlich kam der Oberarzt der Frühchenintensivstation.
Sein Blick war sehr ernst. Tief in mir wusste ich, was jetzt kam
und mein Herz verkrampfte sich: unsere kleine Anica verstarb bereits
13 Minuten nach der Geburt, um genau 3 Uhr nachts! Dieses ganze
viele Wasser, welches sie während der Schwangerschaft eingelagert
hatte, war nicht mehr herauszukriegen aus ihrem kleinen Körper,
die Lunge füllte sich immer wieder erneut damit. Sie hatte
keine Chance... Zudem hatte sie eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte,
es hätte nicht viel Sinn gehabt...ich war wie erstarrt, die
Worte prallten an meinen Ohren ab, ich wollte "Nein" schreien
und mein Mund öffnete sich, unfähig auch nur einen Laut
hervorzubringen...alles verschwamm, ich musste mich konzentrieren,
richtete meinen Blick unverwandt auf diesen Mann...Elina hingegen
ginge es den Umständen entsprechend. Für die Vorgeschichte
wäre der Start nicht so schlecht gewesen, man müsse abwarten...diese
Nacht, die ersten 24 Stunden, die erste Woche, den ersten Monat.
Wenn die Winzlinge soweit kommen, schaffen sie es in den meisten
Fällen.
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I. Zwilling (Anica) * 10.08.00 um 2.47 Uhr in der Charité
32 cm, 890 g, KU 22 cm, APGAR 1/0/1
verstorben um 3.00 Uhr in der Charité
II. Zwilling (Elina) * 10.08.00 um 2.50 Uhr in der Charité
32 cm, 550 g, KU 22 cm, APGAR 7/5/7
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Mein Mann und ich sahen uns an, wir umarmten uns,
Matthias weinte. Am Ende meiner Kräfte verfiel ich erneut in
diesen Dämmerschlaf. Kurze Zeit darauf kam der Arzt erneut
und nahm Matthias mit auf die Neonatologie zu einem ersten Besuch
unserer kleinen Tochter.
Ich blieb allein zurück, unfähig auch nur einen klaren
Gedanken fassen zu können. Ich wartete sehnsüchtig auf
Matthias' Rückkehr. Er erschien mir relativ gefasst und voller
Hoffnung für unser kleines Mädchen. Ich flüchtete
erneut erschöpft für lange Zeit in diesen komischen Schlaf.
Das einzige, an was ich mich genau erinnere während dieser
Stunden, ist die immer wiederkehrende, sich in mein Gedächtnis
bohrende Frage: "Frau Schmidt, möchten sie jetzt ihr Kind
sehen?" und immer wieder hörte ich meine Stimme weit entfernt
antworten: "Ja, aber nicht jetzt!"
Gegen 6 Uhr morgens erwachte ich erneut und die Bilder an der Wand
nahmen zum ersten Mal klarere Formen an, wieder kam die Frage und
dieses Mal konnte ich endlich zustimmend nicken. Zuerst erhielt
ich einen kleinen Umschlag, es waren zwei Polaroid-Fotos von Anica
darin und ihre Mini-Fußabdrücke.
Wenig später wurde mir die kleine Anica in meine Arme gelegt.
Sie war so leicht, so winzig und so furchtbar regungslos. Wir hielten
sie eng an uns gedrückt und weinten lange, lange Zeit. Irgendwie
hätten wir ihr noch so viel sagen wollen. All diese Gefühle,
die da über uns hereinbrachen, sind unmöglich in Worte
zu fassen. Es waren die schwersten Stunden unseres Lebens.
In diesen Augenblicken entschieden wir, unseren
Zwillingen jeweils noch den anderen Namen der Schwester als Zweitnamen
zu geben, als Erinnerung und als Zeichen dafür, dass nichts
auf der Welt sie zu trennen vermag. So heißen sie nun Anica
Elina und Elina Anica. Irgendwann übergab
ich unsere Tochter an Matthias, ich konnte dies alles nicht mehr
ertragen. Matthias hielt sie ganz eng an sich gekuschelt, bedeckte
ihr Gesicht immer wieder mit zarten Küssen. Er weinte bitterlich.
Er konnte und wollte unser kleines Mädchen nicht wieder hergeben.
Er saß noch ewig so mit ihr da.
Doch irgendwann mussten wir es übers Herz bringen, sie für
immer wegzugeben.
In unseren Herzen aber wird sie immer weiter
leben.

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